
Ulrich Siegmund sitzt auf seiner Terrasse und blickt in die Kamera. Er filmt sich selbst mit dem Handy. "Stellt euch vor, ihr sitzt im Garten, guckt Fußball oder trinkt ein Bier mit Freunden und auf einmal kommt ein Afghane mit 'nem Messer zu euch aufs Grundstück und sticht auf die Menschen ein.“ Das Video wurde 284.000-mal angeschaut.
Siegmund ist AFD-Abgeordneter und Fraktionsvorsitzender im Landtag Sachsen-Anhalt. Er hat über 430.000 Follower auf TikTok. Platz eins unter deutschen Politikern. Mithalten kann da nur Sahra Wagenknecht mit 420.000. Olaf Scholz kommt auf 300.000, Robert Habeck auf 35.000. Bei den Accounts der Bundestagsfraktionen sieht es ähnlich aus.
Soziale Medien gehorchen einer eigenen Logik. Sprechen eine eigene Sprache. Wer Erfolg haben möchte, muss diese Sprache lernen. Das gilt auch für die politische Kommunikation. Am Beispiel Instagram zeigt die Forschung das seit Jahren. Darstellbarkeit und Selbstthematisierung sind für politische Akteure immer bedeutender geworden. Eine Entpolitisierung politischer Kommunikation hat dazu geführt, das Posts stetig weniger politische Botschaften enthielten. Deutsche Politiker nutzen die Plattform ganz selbstverständlich, eine Vormachtstellung der AFD ist dort nicht erkennbar. Warum sieht das auf TikTok so anders aus? Dafür existieren verschiedene Erklärungsansätze.
- Die Partei war als erste auf der Plattform vertreten und hat deren wachsende Bedeutung richtig antizipiert.
- Durch ein umfangreiches Netzwerk aus unterstützenden und verstärkenden Accounts hat sie mittlerweile eine Deutungshoheit erlangt, die es neuen Akteuren erschwert, Fuß zu fassen.
- Die AFD nutzt mehr Ressourcen als die Konkurrenz und produziert Content gezielter für TikTok. So sollen beispielsweise Parlamentsreden auf die sozialen Medien zugeschnitten sein.
- Die auf TikTok erfolgreiche Strategie der Emotionalisierung bereitet anderen Parteien Schwierigkeiten.
- Der Algorithmus unterstützt die polarisierenden Inhalte der AFD.
Was den meisten Erklärungen abgeht, ist eine konkrete inhaltliche Auseinandersetzung. Schaut man sich an, was gute (politische) Kommunikation auf TikTok ausmacht, werden einige Punkte immer wieder genannt.
- Authentizität (Einblick in die Persönlichkeit eines Politikers; Verzicht auf formelle Statements)
- Unterhaltsamkeit (Kürze und Prägnanz)
- Wiedererkennbarkeit (Einheitliches Design und klare Strukturierung)
- Visuelle Attraktivität (Hochwertige Bilder, schnelle Schritte, kreative Effekte.)
- Storytelling (So können Politiker komplexe politische Themen verständlicher und emotional ansprechender machen)
- Kreativität
- Kontinuität (Regelmäßige Postings und eine konsistente Botschaft)

Mit diesen Punkten im Hinterkopf geht es zurück zum Anfang des Textes. Zurück zu Ulrich Siegmund. In seinen Videos wirkt er gut gelaunt und schaut direkt in die Kamera. Er duzt seine Zuschauer und filmt sich selbst mit dem Handy. Immer mal wieder werden Fotos, Grafiken oder Zeitungsartikel eingeblendet. Gelegentlich gibt es musikalische Untermalungen. Meistens dauern diese Videos zwischen 30 Sekunden und einer Minute. Siegmund redet frei und verständlich. Häufig wirkt er wie jemand, der einfach nur sein Handy in die Hand genommen hat, um über die Dinge zu berichten, die ihn stören. Inhaltlich gibt es viel Storytelling aus Sachsen-Anhalt. Wenn er mit seinem Handy vor einem Asylheim steht, hat er einen AFD-Antrag zu den laufenden Kosten in der Hand. Er zitiert aus dem Text, er zeigt auf einen Krankenwagen im Hintergrund oder beschreibt die Menschen, die das Gelände verlassen. Alles ist anschaulich erklärt und wirkt nachvollziehbar. Siegmund ist authentisch.
Seine Videos haben alle die gleiche Botschaft. Verfolgen eine Strategie, die sich schon am Namen ablesen lässt. Denn der Account heißt "mutzurwahrheit90“. Ulrich Siegmund zeigt diese Wahrheit. Eine Wahrheit, die von Politik und Medien verschwiegen wird. So ruft er dazu auf, bei Stimmenauszählungen in den Wahllokalen vor Ort zu sein, um potenziellen Wahlfälschungen entgegenzuwirken. Denn natürlich sei Wahlbetrug möglich, so Siegmund. Über die teuren Autos mit ukrainischem Kennzeichen in Berlin würden die Medien auch nicht berichten. Oder über die explodierenden Sozialausgaben für Geflüchtete. Bei Siegmund gibt es ein klares Freund-Feind-Schema. Es gibt ein "Wir": Das sind die hart arbeitenden Deutschen, die normalen Leute, die AFD, die als einzige Partei dem eigentlichen Willen des Volkes dienen würde. Und dann gibt es die anderen: Geflüchtete, Links-Grüne und die anderen Politiker, die sich die Taschen voll machen und das Volk belügen würden. Auch in den Ausschnitten aus seinen Parlamentsreden verfolgt er diese Strategie. Dort wirkt er gut vorbereitet, präsentiert viele Zahlen und Fakten. Der Zuschauer könne sich ja ein eigenes Bild machen, betont er häufig.

Und wie sieht es auf dem TikTok-Account von Olaf Scholz aus? Dort gibt es Bilder vom Bundeskanzler mit langen Haaren oder ein Geburtstagsständchen von Joe Biden auf dem G7-Gipfel. Einige Videos haben schnelle Schnitte und musikalische Untermalungen. Sie sind visuell attraktiv. Der Content ist abwechslungsreich, häufig kurz und prägnant. Das Video, in dem er seine Aktentasche vorstellt, hat über 5 Millionen Aufrufe. Alles ist professionell produziert. Scholz hält das Handy nicht selbst in der Hand, es steht vor ihm auf einem Stativ. Er duzt nicht und trägt meistens Anzug. Dadurch wirkt alles distanzierter. Selbst auf persönliche Fragen antwortet er mit langen, überlegten Sätzen. Das ist auf der einen Seite authentisch.
So kennt man Olaf Scholz aus zahlreichen Pressekonferenzen und Talkshow-Auftritten. Doch diese formellen Statements wirken auf TikTok deplatziert und bieten kaum Einblick in seine Persönlichkeit. Scholz betreibt kein Storytelling und wirkt oft etwas verkrampft. "Olaf, blinzel zweimal, wenn du dazu gezwungen wurdest", schreibt jemand in den Kommentaren.
Das Amt des Bundeskanzlers verpflichtet zu einer gewissen Souveränität. Auch auf TikTok. Der Account hat keine rein unterhaltende, sondern auch und vor allem eine informierende Funktion. Doch Informieren kann auch unterhaltsam sein. Und Scholz hat auch andere Momente. Beim Brezel backen in einer Bäckerei beschreibt er sein Werk leicht ironisch: "Das sieht ja beinahe aus wie eine Brezel." Hier wirkt er sympathisch, lacht auch mal und unterhält sich mit einigen Angestellten. In einem anderen Video wird er dazu angehalten, die Rudermaschine der Kanzlerwohnung vorzuführen. So entledigt er sich seines Jacketts und steigt auf das Gerät. Er fängt an zu rudern und lächelt verschmitzt: "Wenn ich rudere, denke ich an nichts". Dann ist das Video vorbei. Schade eigentlich. Wieder hat man keinen tieferen Einblick in die Person Olaf Scholz erhalten.
"Olaf, blinzel zweimal, wenn du dazu gezwungen wurdest."
Im Vergleich der beiden Accounts fallen zwei große Unterschiede auf. Zum einen gibt es bei Scholz kein Storytelling. Keine auf Emotionen beruhenden Geschichten. Durch die Professionalität wirkt alles distanzierter. Typisch Olaf Scholz eben. Zum anderen fehlt eine konsistente Botschaft, eine klare Strategie. Mal beantwortet Scholz Fragen, die unter den Kommentaren gestellt wurden. Mal zeigt er den Inhalt seiner Aktentasche. Mal formt er Brezeln. Das ist zwar abwechslungsreich, hat ber keinen roten Faden. Bei Siegmund ist jedes Video in irgendeiner Art mit seiner Strategie der „Wahrheit“ verknüpft.
Nun ist ein kurzer Vergleich zweier TikTok-Accounts keine Erklärung für die Dominanz der AFD. Vielleicht ist der nüchterne Olaf Scholz kein Typ für Social Media. Vielleicht hat die AFD auch einfach einen Vorsprung. Siegmund hat sein erstes TikTok am 11. März 2021 veröffentlicht, Olaf Scholz die Plattform erst über drei Jahre später betreten. Da wirkt die Differenz zwischen 300.000 und 430.000 Followern im Juli 2024 gar nicht mehr so groß. Auch andere Politiker wie Robert Habeck oder Karl Lauterbach haben erst seit kurzem Accounts. Möglich, das sich die Zahlen in den kommenden Monaten angleichen. Eine Beschränkung auf externe Faktoren des bisherigen AFD-Erfolgs negiert jedoch die Möglichkeit, das die Kommunikationsarbeit der AFD auf TikTok besser sein könnte, als die ihrer Mitbewerber. Diese Ignoranz kann ein großer Fehler sein.